Wir haben es alle nicht einfach in diesen Zeiten. Vieles von dem, worauf politische Entscheidungen beruhen, die für uns zu teilweise sehr schmerzlichen Einschnitten führen, beruht auf Mathematik. Und zwar auf Mathematik, mit der der Durchschnittsbürger zumindest leicht überfordert ist. Deshalb ist es umso wichtiger, dass es Menschen bzw. Medien gibt, die uns diese mathematischen Modelle nahebringen und erläutern.

Viele dieser Erklärungen werden dann wiederum über Social Media geteilt und größtenteils dankbar angenommen. Aber leider ist nicht alles, was da beklatscht und bejubelt wird, auch inhaltlich korrekt. Das Gefährliche daran ist, dass Erklärungen, die einen gewissen Textumfang haben und eine entsprechende Anzahl von Fachbegriffen enthalten, oftmals nicht mehr hinterfragt werden, entweder weil die Leser die Komplexität des Textes an sich bereits als Autoritätsargument für dessen Wahrheitsgehalt interpretieren und sich deshalb nicht mehr die Mühe machen, den Text detailliert zu hinterfragen, oder weil sie mit der Materie schlicht überfordert und deshalb gar nicht in der Lage sind, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

So kommt es vor, dass immer wieder inhaltlich zumindest Zweifelhaftes nicht nur geteilt, sondern auch noch bejubelt wird. In dieser Art tauchte beispielsweise vor ca. zwei Wochen ein längerer Text in meiner Timeline bei Facebook auf, der als „gut geschrieben“ bzw. „super geschrieben“ angepriesen wurde. Da schrillten bei mir bereits die Alarmglocken. Wir erinnern uns: Auch ein anderer Text, an dem ich mich in letzter Zeit abgearbeitet habe, wurde dergestalt beworben bzw. bejubelt.

Vorneweg: So schlimm ist der hier besprochene Text nicht wie der, der im Oktober meinen Kamm zum Schwellen gebracht hat. Außerdem hat der Text im Original (Stand heute morgen) gerade mal 20 Reaktionen und wurde lediglich viermal geteilt. Stellt sich also die Frage, ob er überhaupt wert ist, sich daran detailliert abzuarbeiten. Ich hatte aber, nachdem der Text in meiner Timeline geteilt wurde, kommentiert, dass ich darin auf den ersten Blick mindestens zwei Falschbehauptungen sähe. Daraufhin hat mich der Autor des Textes höflich aufgefordert, die erwähnten Unstimmigkeiten konkret zu benennen und zu belegen. Dieser Bitte komme ich hiermit gerne nach:

Update 22.08.2020:

Fünf Tage nach der Veröffentlichung dieses Artikels erreichte mich eine E-Mail des Autors des hier besprochenen Textes. Im Laufe eines kurzen Mailwechsels stellte sich heraus, dass dem Autor nicht bewusst war, dass er durch exakt die Privatsphäre-Einstellungen, die es mir erst ermöglichten, den Text zu lesen, den Text im juristischen Sinne einer Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hatte. Sein mir gegenüber geäußerter Wunsch, gerne mit mir weiter diskutieren zu wollen, aber bitte nicht in der Öffentlichkeit, war somit gleichsam ein Paradoxon.

Wir einigten uns letztendlich folgendermaßen: Er hat die Privatsphäre-Einstellungen des Posts dahingehend geändert, dass der Text mindestens für mich nicht mehr einsehbar ist. Damit kann ich zumindest aus meiner Sicht die Öffentlichkeit des Textes in juristischem Sinne nicht mehr belegen. Im Gegenzug anonymisiere ich sämtliche Hinweise auf den Autor des Textes, um seiner Befürchtung entgegenzuwirken, meine „Rezension im öffentlichen Teil des Internets“ sei geeignet, seinen Ruf zu beschädigen.

Das möchte ich an dieser Stele nicht weiter kommentieren. Eine weitere Diskussion außerhalb des „öffentlichen Teils des Internets“ kommt für mich nicht in Frage, weil das schlicht nicht meiner Auffassung eines herrschaftsfreien Diskurs‘ nach Habermas entspricht.

Alle Namensnennungen des Autors in der Fassung vom Tag der Veröffentlichung dieses Artikels habe ich heute durch „der Autor“ ersetzt.

„Lügenpresse!“

Der Text beginnt – quasi als Überschrift – mit dem Satz:

Vormalige Qualitätsmedien verbreiten Falschinformation!

Das ist knapp unter „Lügenpresse!“ Starker Einstieg, kann man machen. Das Problem, das sich jedoch daraus ergibt, ist aus meiner Sicht: Anspruch verpflichtet. Ob der Text dem Anspruch, der hier an „vormalige“ Qualitätsmedien gestellt wird, selbst gerecht wird, will ich im Folgenden versuchen zu hinterfragen.

Weiter ist da zu lesen: „In zahlreichen Medienberichten wird behauptet, dass eine zweite Welle begonnen habe […]“ Als Beispiel für solch einen Medienbericht wird ein Tagesspiegel-Artikel verlinkt. Und ja, dieser Artikel ist tatsächlich nicht unbedingt eine wissenschaftsjournalistische Meisterleistung. Vieles der Kritik daran ist nachvollziehbar und halte ich auch für gerechtfertigt.

Leider schießt „der Autor“ dabei allerdings etwas übers Ziel hinaus.

Problemfeld Begrifflichkeiten

„Zweite Welle“

Mal abgesehen davon, dass der Begriff „zweite Welle“ nicht wirklich definiert ist und es von daher bereits schwierig ist, darüber sinnvoll zu diskutieren (vgl. Apotheken-Umschau, RND & SPIEGEL), möchte ich hier, um konziser diskutieren zu können, eine kleine Kurzdefinition wagen, ohne jeglichen Anspruch auf universelle Gültigkeit (mit Dank an das Gabler Wirtschaftslexikon für die Vorlage):

Von einer „zweiten Welle“ spricht man im Rahmen einer Epidemie bzw. Pandemie, wenn nach einer längeren Phase von rückläufigen Infektionszahlen ein erneuter, erheblicher und anhaltender Anstieg der Infektionszahlen zu verzeichnen ist.

R-Wert

Dabei spielt dann der sog. R-Wert eine Rolle. Wenn man obige Definition vereinfacht auf den R-Wert überträgt, würde „zweite Welle“ bedeuten, dass der R-Wert nach einer längeren Phase, in der er Werte unter 1 angenommen hatte, nun wieder in eine Phase übergeht, in der er über einen längeren Zeitraum Werte deutlich über 1 annimmt.

Der R-Wert und seine Bedeutung sind an vielen Stellen im Netz gut beschrieben (vgl. z. B. ARD-Faktenfinder), aber bereits hier scheint der Autor kleinere Probleme zu haben:

Da diese Zahl [der R-Wert] zum Ausklang einer Pandemie im Idealfall sich von unten der Eins immer mehr (d.h. asymptotisch) annähert,[…]

Autsch. Mag ja sein, dass dem Autor hier lediglich ein Fehler durch eine etwas ungeschickte Formulierung unterlaufen ist. Erschreckend ist jedoch, dass niemand der „Gut geschrieben!“-Jubler diesen (Halb-)Satz hinterfragt. Aber bereits hier glaube ich, (mindestens) zwei Fehler in einem (Halb-)Satz entdeckt zu haben:

„Idealfall zum Ausklang der Pandemie“ würde für mich bedeuten, dass der R-Wert sich nicht der Zahl 1 annähert, sondern deutlich unter 1 fällt. Eine längerfristige (asymptotische) Annäherung an den Wert 1 würde bedeuten, dass die Zahl der Neuinfektionen konstant bleibt. Mit der Zahl der Neuinfektionen korrelieren allerdings auch die Zahl der Todesopfer, das wäre für meine Begriffe weit entfernt von einem „Idealfall zum Ausklang der Pandemie“. Das klingt für mich, als wäre das Ziel eine langsame komplette Durchseuchung der Bevölkerung. Dies wäre aus meiner Sicht allerdings von einer Ideallösung weit entfernt.

„Ideal“ wäre also eine Annäherung an den Wert 0. Und das ist nur von oben möglich, weil der R-Wert per definitionem keine negative Werte annehmen kann. Wobei 0 nicht ganz erreicht werden muss. Wenn der Wert über einen längeren Zeitraum konstant einen Wert deutlich unter 1 annimmt, wäre das ausreichend.

Steigende Testzahlen = Steigende Fallzahlen?

Aber das ist ja gar nicht das eigentliche Thema des Textes. Der Grundtenor ist vielmehr die Behauptung, die gestiegenen Fallzahlen kämen lediglich durch die im gleichen Zeitraum gestiegene Zahl der Tests zustande. Auf den ersten Blick ein echter „Trump“ („Cases are up because we have the best testing in the world and we have the most testing.“), auf den zweiten Blick jedoch zunächst einmal nicht so einfach von der Hand zu weisen (deshalb wohl auch der Beifall der Leser). Grund genug also, noch einen dritten, genauer prüfenden Blick auf diese Behauptung zu werfen:

Positivenrate vs. Zahl der positiven Tests

Hauptkritik „des Autors“ ist, dass zu sehr das Augenmerk auf die reine Zahl der positiven Test gerichtet würde und dass dabei die Anzahl der Tests außer Acht gelassen würde. Aussagekräftiger sei dagegen die sog. Positivenrate, also der Quotient aus der Zahl der positiven Test geteilt durch die Gesamtzahl der Tests. Diese Kritik halte ich für nachvollziehbar und gerechtfertigt.

Soweit war es noch relativ einfach nachvollziehbar.

Sensitivität, Spezifität, Prävalenz usw.

Um den Text weiter folgen zu können, sollte man die Bedeutung der Begriffe „Sensitivität“, „Spezifität“, „positiv prädiktiver Wert“, „negativ prädiktiver Wert“, „Prävalenz“, „Inzidenz“ und „Vortestwahrscheinlichkeit“ kennen (diese werden z. B. im Lecturio Magazin sehr anschaulich erklärt). „Der Autor“ hat sich offensichtlich mit den Begrifflichkeiten und deren Bedeutung auseinandergesetzt und stellt auch einen Link zu einer Seite zur Verfügung, auf der diese erklärt werden. Das ist zunächst einmal sehr verdienstvoll.

Allerdings versteigt er sich dann im weiteren Verlauf des Textes zu einer etwas abenteuerlichen These nebst anklagenden Schlussfolgerungen:

Es wäre also möglich, dass es hierzulande gar keine Fälle von Infektionen mehr gibt und die positiven Ergebnisse auf Artefakte zurückgehen. Schließlich wurden die Tests bis heute keinen offiziellen Zulassungsverfahren unterzogen.
Wenn sich also etwas ausbreitet, dann sind dies im wesentlichen die falsch positiven Ergebnisse und die Dreistigkeit mit der das Vertrauen der Leser ausgenutzt wird. […] Die vermeidliche Schuld darüber hinaus bei zurückkehrenden Urlaubern zu suchen ist infam. Leider beschränkt sich diese grobe Irreführung nicht auf den Tagesspiegel, sondern zieht sich durch alle Massenmedien.

Theoretische Mathematik vs. Anwendung

Ja, als theoretisches Modell ist der Fall, dass alle positiven Fälle lediglich „Artefakte“ seien und eine Steigerung der Zahl der positiven Test einzig und allein auf die Steigerung der Zahl der Tests zurückzuführen sei, natürlich denkbar. Das ist das Schöne an theoretischer Mathematik.

Aber wenn man eine solche These aufstellt und damit auch noch gegen etablierte Epidemiologen zu Felde ziehen will, sollte man sie jedoch zumindest ansatzweise einem Realitätscheck unterziehen. Aber genau diesen Realitätscheck sucht man im Text „des Autors“ vergeblich. Stattdessen gipfelt das Elaborat in dem anklagenden Schlusssatz:

Offenbar bevorzugt hier die Exekutive die völlige Handlungsfreiheit, möchte aber dennoch zumindest bei dem mathematisch weniger interessierten Teil der Bevölkerung den Anschein erwecken, nach wissenschaftlichen Kriterien vorzugehen.

Holla, abermals eine starke Ansage. Aber Moment mal, wie war das, „… den Anschein erwecken, nach wissenschaftlichen Kriterien vorzugehen.“ Ist das nicht genau das, was „der Autor“ selbst tut?

Schauen wir doch etwas genauer hin.

Entwicklung der Positivenrate

Ok, das ist jetzt etwas unfair, mir hilft dabei die „Gnade der späten Geburt“ meines Textes gegenüber dem hier kritisierten. Andererseits: Warum sollte ich Fakten nicht verwenden, wenn sie vorliegen?

„Der Autor“ kannte zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes lediglich die Daten bis einschl. KW 30. Aber bereits die Daten der KW 30 verschweigt er schlicht in seinem Text. Darauf in einem Kommentar angesprochen spielt er die Bedeutung herunter. Jetzt, zwei Wochen später, liegen uns die Daten zweier weiterer Wochen vor:

Anzahl der SARS-CoV2-Testungen in Deutschland (Stand 11.08.2020)

Anzahl der SARS-CoV2-Testungen in Deutschland (Stand 11.08.2020) Quelle: Lagebericht des RKI vom 12.8.2020

Spätestens damit ist die These, dass die Steigerung der Zahl der positiven Test einzig und allein auf die Steigerung der Zahl der Tests zurückzuführen sei, widerlegt.

Ein sehr gut recherchierter und mit schöner Datavisualisierung versehener Artikel des Journalisten Jan Georg Plavec in der Stuttgarter Zeitung zeigt mithilfe eines Scatterplots anschaulich:

Je weiter oben ein Punkt eingetragen ist, desto mehr Infektionen wurden in der jeweiligen Kalenderwoche gefunden. Hinge die Zahl der Tests mit der Zahl der Infektionen direkt zusammen, so würde im Schaubild eine Linie erkennbar – in diesem Fall von links unten nach rechts oben. Das ist aber nicht der Fall, stattdessen wurden zu Beginn der Pandemie (Kalenderwoche 12 bis 17) mit relativ wenigen Tests relativ viele Infektionen gefunden – und seither mit relativ vielen Tests eher wenige Infektionen.

Nun, was hat aber „der Autor“ nun genau getan? Ganz einfach: Lügen mit Statistik für Anfänger – man wähle den Betrachtungszeitraum so gering, dass die Zahlen die eigene These zu belegen scheinen. Seine Kritik an dem Tagesspiegel-Artikel, der ebenfalls nur den Betrachtungszeitraum der KW 28 & 29 umfasst, ist berechtigt. Auf diesen geringen Betrachtungszeitraum allerdings selbst danach eine so weitreichende These zu stützen, das ist … äh … genau: „… den Anschein erwecken, nach wissenschaftlichen Kriterien vorzugehen.“

Weitere Faktoren

Mehrfachtestung

Das RKI weist auf folgenden Umstand hin:

Es ist zu beachten, dass die Zahl der Tests nicht mit der Zahl der getesteten Personen gleichzusetzen ist, da in den Angaben Mehrfachtestungen von Patienten enthalten sein können.

Das wird höchstwahrscheinlich noch nicht durchgehend, also eher viel zu selten praktiziert. Aber dennoch ist das eine wirksame Methode, die Falsch-Positiv-Rate stark zu minimieren. Und sie wird auch tatsächlich praktiziert, wie ein Beispiel in Mamming, Bayern (welt.de, 02.08.2020) zeigt:

Der Landkreis lässt die Mitarbeiter des zweiten Betriebes gerade ein zweites Mal testen, um sicherzugehen, dass die Ergebnisse der Abstriche korrekt waren.

Teststrategie

Das RKI erläutert auf der Seite „Nationale Teststrategie – wer wird in Deutschland getestet?“, nach welchen Kriterien Tests in Deutschland durchgeführt werden. Daraus ergibt sich, dass die Prävalenz bei getesteten Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit signifikant höher liegt, als wenn man rein zufällig in der Bevölkerung testen würde. Auch dies ist ein Argument gegen die These, dass alle positiven Fälle lediglich „Artefakte“ seien.

Rückkehrer

Wie sieht es denn nun tatsächlich mit den Urlaubsrückkehrern aus? Ein kurzer Blick in die Medien am Beispiel NRW:

Ärzteblatt, 03.08.2020:

Bei Tests auf SARS-CoV-2 von Reiserückkehrern aus Risikogebieten an den nordrhein-westfälischen Flughäfen werden rund 2,5 Prozent der Urlauber positiv getes­tet.

Radio 91.2, 11.08.2020:

Laut Stadt Dortmund betrug die Positivrate unter den Reiserückkehrern in der vergangenen Woche 3,82 Prozent. Es wurden dabei 4135 Tests durchgeführt (Flughafen und Klinikum Nord), davon waren 158 Tests positiv. Am Dortmunder Flughafen wurden dabei auch Rückkehrende getestet, die ihren Wohnsitz außerhalb von Dortmund haben.

Das zeigt dann doch eine deutliche Tendenz gegenüber den Positivenraten der gesamten Republik.

Diese drei Faktoren werden von „dem Autor“ nicht auch nur ansatzweise in Erwägung gezogen. Weitere ließen sich anführen, aber ich denke, es ist Zeit für eine Conclusio:

Fazit

Was ist denn nun für den Anstieg der Zahl der positiven Fallzahlen verantwortlich? Wie ich gezeigt habe, nicht – wie „der Autor“ behauptet – alleine die im gleichen Zeitraum gestiegenen Testzahlen. Sicherlich sind die gestiegenen Testzahlen in den letzten Wochen zu einem Teil mit verantwortlich, das leugnet aber von den Verantwortlichen in Politik und Wissenschaft niemand. Aber darüber hinaus sind – wieder entgegen der Behauptung „des Autors“ – auch die Rückkehrer und, wie zu erwarten war, vor allem die aus sog. Risikogebieten mit verantwortlich. Auch andere Faktoren, auf die ich hier nicht eingegangen bin, spielen sicherlich für den Anstieg der Fallzahlen eine Rolle.

Also: Gut geschrieben? – Nicht wirklich!

Zum Abschluss etwas simple Mathematik

Warum arbeite ich mich nun – abgesehen von der höflichen Bitte des Autors – an seinem Text so detailliert ab? Abgesehen davon, dass es mal wieder ein Beleg für Brandolinis Gesetz sein könnte, dazu noch ein kleiner Exkurs:

In der Zeit kurz vor dem Lockdown habe ich in Arbeitspausen am Kaffeeautomat stehend gerne den Erklärbär für Kollegen gespielt und z. B. den Unterschied zwischen quadratischen und exponentiellen Funktionen erläutert. Im Wikipedia-Artikel „Exponentielles Wachstum“ ist eine schöne Grafik enthalten, die visuell lineares, kubisches und exponentielles Wachstum gegenüberstellt. Und anhand dieser Grafik kann man sehr deutlich erkennen, warum exponentielles Wachstum so tückisch ist: Über einen sehr langen Zeitraum verläuft die Kurve extrem flach, um dann innerhalb relativ kurzer Zeit zu einem sehr steilen Wachstum umzuschlagen.

Und genau diese Eigenschaft ist der Grund dafür, warum während einer (potenziellen) Epidemie bzw. Pandemie gerade in einer Phase des scheinbaren Nullwachstum höchste Vorsicht geboten ist. Denn vor allem nach der Erfahrung einer „ersten Welle“ spielt unser Verhalten eine große Rolle. Und das Verhalten wird dadurch gesteuert, wie ernst wir die Situation nehmen. Ich bin auch gegen Panikmache bzw. das Schüren von Angst. Aber Verharmlosung halte ich dagegen für noch weniger hilfreich. Und der vorliegende Text „des Autors“ zeigt aus meiner Sicht leider eindeutige Tendenzen von Verharmlosung, weil er, um seine Grundthese zu belegen, grobe methodische Fehler begeht.

Eine letzte Bemerkung zum Thema „vormalige Qualitätsmedien“: Vielleicht sind gar nicht so sehr die Qualitätsmedien, sondern womöglich eher „vormalige Qualitätsleser“ bzw. „vormalige Qualitätsrezipienten“ das Problem? Ich bin sehr fürs Hinterfragen und strikt gegen kritikloses Hinnehmen von Befehlen und Maßnahmen, wie meine Tätigkeiten als Gewerkschaftsvorstand und Betriebsrat unschwer erkennen lassen. Und ja, wir sind alle in den letzten Monaten zu Experten in Epidemiologie und Verfassungsrecht herangereift.

Aber wie wäre es damit, beim Hinterfragen die eigenen Thesen stärker mit einzubeziehen?