Diesen bzw. einen ähnlichen Artikel wollte ich bereits am 12. August veröffentlichen, da sich an jenem Tag zum fünften Mal mein Dienstbeginn beim Rundfunkchor Berlin jährte. Mein fünfjähriges Dienstjubiläum bedeutet aber gleichzeitig fünf Jahre Berlin; Zeit also, um einmal innezuhalten und zu resümieren, wie sich meine Beziehung zu Berlin in diesen fünf Jahren entwickelt hat.

Die Ereignisse um den 12. August herum hielten mich jedoch davon ab, diesen Artikel fristgerecht zu verfassen. Etwa einen Monat später las ich auf blog.yoda.ch einen Aufruf zu einer Blogparade: Was ist Heimat? Heute ist nun die letzte Gelegenheit zur Teilnahme an dieser Blogparade, und diese möchte ich hiermit nutzen:

Heimat ist Verwurzelung

Beim Konzipieren dieses Artikels habe ich mir überlegt, welches Synonym wohl am ehesten für meine Definition von Heimat passend wäre. Und dabei bin ich letztenendes auf den Begriff „Verwurzelung“ gekommen. Das Bild eines Baums, der durch seine Wurzeln Wasser und Nährstoffe bezieht, wird gerne bemüht, weil es sich zum Abbilden von „Bedürfnisbefriedigung“ im weitesten Sinne gut eignet. Und deshalb will ich Heimat eben auch nicth auf einen geographischen Ort reduziert sehen, sondern spreche lieber von einem Milieu, in dem der Baum, also ich, gedeihen kann.

Ist Heimat beschränkt auf einen Ort?

Wenn man denn Heimat doch einmal auf einen geographischen Ort reduzieren will, stellt sich sofort die Frage: Beschränkt sich Heimat auf einen einzelnen Ort, oder können auch zwei oder gar mehrere Orte Heimat sein? Zum ersten Mal wurde ich mit dieser Fragestellung zu Beginn meines Studiums konfrontiert. Hier musste man bei der Immatrikulation ggf. zwei Adressen angeben: die Adresse am Studienort und die sog. Heimatadresse. Da stellen sich sofort weitere Fragen: Kann der Studienort niemals zur Heimat werden? Und ist Heimat automatisch dort, wo man herstammt?

Ein für mich brauchbarer Vergleich zu meiner Beziehung zu Heimat wäre eine Liebesbeziehung: Auch hier kann es passieren, dass ich zwischen zwei Frauen stehe. Während ich mich bei den Frauen früher oder später für eine entscheiden muss, darf ich bei der Heimat zwei Orte haben. Denn an welchen Ort auch immer ich komme und mich niederlasse, er wird immer in Konkurrenz mit Freiburg treten müssen. Bis ich einem anderen Ort als Freiburg das Attribut „Heimat“ gewähre, muss viel geschehen…

Heimat ist Leidenschaft

Der Vergleich mit der Liebesbeziehung führt zur emotionalen Komponente des Begriffs Heimat. Und im Wort „Leidenschaft“ steckt eben auch Leiden drin. Bei meinem Wechsel von Freiburg nach Detmold begleitete mich folgender Text:

Schöne Wiege meiner Leiden,
Schönes Grabmal meiner Ruh,
Schöne Stadt, wir müssen scheiden –
Lebe wohl! ruf ich dir zu.

Heinrich Heine, Buch der Lieder

Heimat ist das Milieu, in dem man liebt und leidet, feiert und trauert, lacht und weint, arbeitet und freie Zeit genießt usw. Nicht umsonst sagt man: „Ich kann dich leiden.“, oder gar: „Ich kann dich gut leiden.“ Meine Heimat kann ich gut leiden.

Per aspera ad astra: Berlin

Der Begriff „Wahlheimat“ ist in meinem Fall für Berlin unpassend. Von allen beruflichen Möglichkeiten, die sich mir boten, war das Berufsbild des Rundfunkchorsängers das für mich attraktivste. Nun gibt es in Deutschland eben nur sieben Rundfunkchöre, zwei davon in Berlin. Nach einem Fehlstart in München habe ich vor fünf Jahren meine Stelle in Berlin bekommen. Das Gefühl, eine Wahl zu haben, hatte ich damals nicht. Ich bin nach Berlin gezogen. Heimat war woanders …

Berlin war alles andere als Liebe auf den ersten Blick. Berlin war mir zu groß, zu laut, zu kalt. Im ersten Winter in Berlin war ich erst einmal sechs Wochen am Stück krank. Ich habe gelitten in Berlin: Im Winter wird es hier fast eine Stunde früher dunkel als in Freiburg. Die Wege sind unendlich lang in Berlin. Der Lärm, dem man ausgesetzt ist, wenn man diese Wege zurücklegt, kann einen zermürben. Gegenüber Freiburg ist man hier dem Angesicht der Armut erbarmungslos ausgesetzt.

Und doch ist meine Beziehung zu Berlin gereift. Vor etwa anderthalb Jahren hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, als ich mit dem Zug von Freiburg nach Berlin fuhr und am neuen Hauptbahnhof ankam: „Jetzt bin ich wieder zu Hause“.

Berlin ist inzwischen meine Heimat. Und das eben nicht nur als geographischer Ort. Heimat ist der Rundfunkchor Berlin, meine Kollegen dort, meine Freunde, mein Kiez in Schöneberg, wo ich seit zwei Jahren lebe: Meine Wohnung, meine Nachbarn, das Chiaia, das Gottlob, mein Gemüsetürke, mein Bioladen, mein ALDI, mein Penny, der Volkspark Schöneberg usw.

Heimat ist Berlin

Ja, Berlin ist mir wirklich zur Heimat geworden. In Freiburg fühle ich mich „nur“ noch als Gast. Zwar als gern gesehener, und ich bin auch gerne dort, aber meine Heimat war dort und ist es nicht mehr. Um auf den eingangs eingeführten Begriff zurückzukommen: Ich habe noch viele Wurzeln in Freiburg, der Baum steht aber jetzt in Berlin!

Zum Abschluss noch ein Videoclip, der einen Teil der Faszination meiner Heimat sehr gut zum Ausdruck bringt: „In Balin“ von P.R. KANTATE mit einem Video von Nadja Klews.

Play

(via Hauptstadtblog)

[Update 11.10.] Gestern endete die Blogparade zum Thema Heimat und heute hat Roman Hanhart in einem sehr lesenswerten Schlussbericht noch einmal alle 30 teilnehmenden Beiträge vorgestellt und ein Resümee gezogen. Insgesamt eine sehr erfreuliche und bereichernde Blogparade, Danke Roman!

Und hier noch eine Liste der teilnehmenden Beiträge:

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