Neben dem Relotius-Skandal beherrscht ein weiterer medialer Aufreger des ausgehenden Jahres momentan die Diskussionsforen, ganz stark auch unter Sängerkolleginnen- und kollegen:

Musiktradition versus Gerechtigkeit: Mädchen in den Knabenchor?

Unter diesem Titel sendete Deutschlandfunk Kultur am 18. Dezember ein etwa 10-minütiges Streitgespräch zwischen der Juristin Susann Bräcklein und der Musikwissenschaftlerin Ann-Christin Mecke, moderiert von Chor-Expertin und Redakteurin Ruth Jarre.

Etwa zeitgleich erscheint zum selben Thema ein Artikel im Tagesspiegel, verfasst von Susann Bräcklein selbst. Auch der Evangelische Pressedienst (epd) fragt bei Frau Bräcklein nach, auf seine Meldung erscheinen Artikel z. B. bei inFranken.de, FOCUS online, evangelisch.de, Kirche+Leben, DOMRADIO.DE und Frankfurter Rundschau. Auch dpa verbreitet die Meldung, woraufhin Artikel u. a. in traditionellen Knabenchor-Hochburgen wie Dresden (vgl. DNN) und Leipzig (vgl. Leipziger Volkszeitung) erscheinen.

All diese Artikel werden fleißig in sozialen Netzwerken geteilt und diskutiert. Das Niveau der Diskussionskultur ist dabei teilweise leider unterirdisch. In erschreckend hoher Zahl muss man vor allem Tatbestände gem. § 185 StGB gegenüber Frau Bräcklein lesen. Aber auch sonst zeigen eine beschämend hohe Zahl an Diskutierenden, und eben auch nicht nur Männer, wes Geistes Kind sie sind.

Dieser Artikel möge ein kleiner Beitrag zur Versachlichung der Diskussion sein.

Juristische Grundlagen

Disclaimer: Ich bin kein Jurist. Die folgenden Ausführungen könnten deshalb sachliche Fehler enthalten. Für diesbezüglich fundierte Hinweise wäre ich dankbar.

Juristisch gesehen besteht hier ein Konflikt zwischen den Rechtsgütern Gleichberechtigung (verfasst in Art. 3 GG) und Kunstfreiheit (verfasst in Art. 5 Abs. 3 GG).

Diskriminierung

Ausgangspunkt der Überlegungen Susann Bräckleins ist ein Urteil des Bundesfinanzhofs aus dem Jahr 2017 (Bräcklein spricht seltsamerweise von einem Urteil aus „diesem“ Jahr):

Eine Freimaurerloge, die Frauen von der Mitgliedschaft ausschließt, ist nicht gemeinnützig.
[…]
Die Entscheidung ist zu einer traditionellen Freimauerloge ergangen. Das Urteil des BFH könnte sich aber auch auf Vereine auswirken, die die Gemeinnützigkeit in Anspruch nehmen, aber wie z.B. Schützenbruderschaften, Männergesangsvereine oder Frauenchöre Männer oder Frauen ohne sachlichen Grund von der Mitgliedschaft ausschließen.

Presseerklärung des BFH

Zwingende Gründe?

Die Musikwissenschaftlerin Mecke hält dagegen, dass der Klang von Knabenchören gegenüber dem von Mädchen- bzw. gemischten Kinderchören signifikant hörbar zu unterscheiden sei (mehr dazu weiter unten). Bräcklein hält dagegen, diese Unterschiede seien zu subtil und stellten keine zwingende Gründe dar:

Rechtlich müsste man darlegen, dass Mädchen Knabenchöre tatsächlich verunstalten würden. Und das hat bis jetzt noch keiner dargelegt.

Und weiter:

Es gibt keine Freiheit der Kunst mit Blick auf Geschlechtsdiskriminierung.

Problemfeld „öffentliche Förderung“

Auch wenn in Deutschland inzwischen auch eine ganze Reihe exzellenter Mädchenchöre (z. B. in Berlin, Hannover und Ulm) existieren, so ist die Zahl der Knabenchöre dennoch nach wie vor um ein Vielfaches höher. Die meisten dieser Chöre kommen ohne Förderung der öffentlichen Hand nicht aus. Und in diesem Kontext wird die Fragestellung „Diskriminierung“ sehr wohl relevant. Es geht hierbei ja nicht nur um Kulturpflege, sondern vor allem auch um Ausbildungschancen bei Kindern und Jugendlichen. Dass hierbei auf Gleichberechtigung geachtet wird, sollte eine Selbstverständlichkeit sein.

Akustische Grundlagen

Anatomie

Ann-Christin Mecke gibt in ihrem Beitrag zur 4. Tagung des Arbeitskreises für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung, „Ihr aber seid nicht geistlich, sondern fleischlich: Warum Mädchen nicht in Knabenchören singen.“, aus dem Jahre 2006 einen Überblick über anatomische Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Ihr Fazit aus diesen Untersuchungen lautet jedoch:

Durch die Ergebnisse von anatomischen Untersuchungen wird also nicht ausgeschlossen, dass sich der Stimmklang von gleichaltrigen Mädchen und Jungen unterscheidet. Ob diese Unterschiede allerdings wahrnehmbar sind und für eine Unterscheidung im Alltag ausreichen, ist fraglich. […]

Wahrnehmung in Hörversuchen

Im oben erwähnten Beitrag listet Mecke in einer Tabelle bis dato publizierte Hörversuche über den Stimmklang von ausgebildeten Mädchen und Jungen auf. Zu ergänzen wäre dazu noch Meckes eigene, gemeinsam mit Johan Sundberg 2010 publizierte Studie „Gender differences in children’s singing voices: Acoustic analyses and results of a listening test“. Die Trefferquoten in den Hörversuchen lagen zwischen 51,0 % und 66,0 %. Das ist zwar statistisch signifikant, aber nicht als klar eindeutig zu bewerten.

In einer Studie aus dem Jahre 2000 erheben die Autoren die Frage:

Adult listeners are able to identify the sex of the choristers more often than children listeners which suggests that there may be an issue of either familiarity with the sound or listening experience. Could direct working familiarity with the blended sound of cathedral choirs be an important issue here? […]

Die Frage stellt sich also, ob ein gewisser „Expertenstatus“ notwendig ist, um die Unterschiede wahrnehmen zu können.

Tradition

Dass Knabenchöre in Verbindung mit Kirchenmusik eine so lange Tradition haben, hängt schlicht mit dem kirchlichen Edikt „mulier taceat in ecclesia“ (eigentlich: „Mulieres in ecclesiis taceant.“; 1. Korinther 14, 34) zusammen. Dieses wurde von Papst Sixtus V. im Jahre 1588 dahingehend gedeutet, dass in der Kirche Frauen nicht nur keine Ämter übernehmen, sondern auch nicht singen sollten. In Rom wurden fortan nicht nur Knabenstimmen, sondern auch Kastraten eingesetzt. Erst Papst Pius X. setzte 1903 per Reform durch, dass Kastraten nicht mehr im päpstlichen Chor singen durften. Insofern geht die Tradition eindeutig auf eine institutionelle Geschlechterdiskriminierung zurück, die zeitweise sogar mit grausamer Verstümmelung einherging. Selbst in der rückständigen katholischen Kirche ist Frauengesang (bis auf das Priesteramt) inzwischen wieder uneingeschränkt zugelassen.

Was würde Bach dazu sagen?

MDR Kultur wirft in einem Artikel zum Thema genau diese Frage auf. Die Beantwortung dieser Frage bleibt letzten Endes Spekulation, allerdings gibt es doch auch gewichtige Argumente dafür, dass der berühmte Thomaskantor, Johann Sebastian Bach, lieber mit einem gemischten Chor als mit Knaben gearbeitet hätte. Auch wenn die Mutation zu Bachs Zeiten im Durchschnitt einige Jahre später einsetzte als heute, so war dennoch die Zeit, die zur Ausbildung einer Sopran- bzw. Altstimme zur Verfügung stand, stark begrenzt, vor allem im Vergleich mit der Zeit, die bei einer Frau des gleichen Stimmfachs zur Verfügung gestanden hätte. Dies stellte sicherlich auch für Bach eine schmerzhafte Einschränkung dar.

In Bachs Biografie finden sich einige Indizien dafür, dass er gerne gegen die Obrigkeit opponierte und sich nicht so leicht mit Einschränkungen zufrieden gab. Hier zwei Beispiele:

  • Bei einer Anhörung am 11. November 1706 in Arnstadt wurde ihm vorgeworfen, er habe „ohnlängsten die fremde Jungfer auf das Chor biethen und musiciren laßen“. Mit Bachs Erwiderung, er habe den Prediger der Neuen Kirche, Magister Justus Christian Uthe, um Erlaubnis gefragt, war der Fall erledigt. Festzuhalten ist jedenfalls, dass es sich hierbei um eine seltene Ausnahmegenehmigung gehandelt haben muss, denn „mulier taceat in ecclesia“ galt damals generell auch in Arnstadt. Die Anekdote zeigt jedoch ein deutliches Interesse Bachs, auch Frauen in der Kirche singen zu lassen.
  • 1730 verfasst Bach als Reaktion auf Anschuldigungen, er würde seinen Pflichten als Thomaskantor nicht nachkommen („Der Cantor tuet nichts!“), eine Eingabe an den Rat mit dem Titel „Kurtzer; iedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music; nebst einigem unvorgreiflichen Bedencken von dem Verfall derselben.“. Darin beklagt er sowohl Misstände bei der Ausstattung mit Instrumentalisten, als auch gravierende Mängel in seinem Thomanerchor:

    Hiernechst kan ich unberühret bleiben, dass durch bißherige reception so vieler untüchtigen und zur music sich gar nicht schickenden Knaben, die Music nothwendig sich hat vergeringern und ins abnehmen gerathen müßen. Denn es gar wohl zu begreiffen, dass ein Knabe, sogar nichts von der Music weiß, ja nicht ein mahl eine secundam im Halse formiren kan, auch kein musicalisch naturel haben könne; consequenter niehmahln zur Music zu gebrauchen sey. Und die jenigen, so zwar einige principia mit auch die Schule bringen, doch nicht so gleich, als es wohl erfordert wird, zu gebrauchen seyn. Denn da es keine Zeit leiden will, solche erstlich Jährlich zu informiren, biß sie geschickt sind zum Gebrauch, sondern so bald sie zur reception gelangen, werden sie mit in die Chöre vertheilet, und müßen wenigstens tact und tonfeste seyn üm beym Gottesdienste gebraucht werden zu können. Wenn nun alljährlich einige von denen, so in musicis was gethan haben, von der Schule ziehen, und deren Stellen mit andern ersetzet werden, so einiestheils noch nicht zu gebrauchen sind, mehrentheils aber gar nichts können, so ist leicht zu schließen, dass der Chorus musicus sich vergeringern müße.

    Deutlicher hätte er die Unzufriedenheit mit seinem Knabenchor schwerlich formulieren können.

Es erhebt sich die Frage, ob, wenn man Knabenchöre erhalten will, der Rückgriff auf das Argument „Tradition“ geeignet sei, wenn diese doch einerseits eindeutig auf institutionelle Geschlechterdiskriminierung fußt und andererseits von maßgeblichen Protagonisten eigentlich ungeliebt war.

Im Falle Bachs ist die Tradition ohnehin bereits in eine Schieflage geraten: Selbst bei den meisten Knabenchören werden inzwischen auch in den Kirchenwerken Bachs für die Sopran- und Alt-Solopartien Frauen eingesetzt. So gut wie niemand stört sich daran.

Blick über den Tellerrand

Das Thema scheint momentan weltweit in der Luft zu liegen. Gestern veröffentlichte die New York Times online einen Artikel mit dem Titel „In a Season of Boys’ Choirs, a Question: Why No Girls?“. Darin wird noch nicht einmal auf die Diskussion in Deutschland eingegangen, wohl aber auf die Situation in Großbritannien.

Situation in Großbritannien

Knabenchöre haben bzw. hatten in Großbritannien wahrscheinlich eine noch stärkere, aber auch eine andere Tradition als in Deutschland. Jede größere Kathedrale in Großbritannien hat auch einen Kathedralchor. Die Tradition sah hier allerdings vor, dass lediglich die Oberstimme („Treble“ = Sopran) mit Knaben besetzt wurde, die anderen Stimmen wurden und werden immer noch mit teilweise falsettierenden Männerstimmen besetzt.

Aber auch „the wind of change“ setzte hier früher ein: Bereits 1991 ließ der Salisbury Cathedral Choir als erster seiner Art Mädchen gleichberechtigt zu Knaben zu. Weitere Kathedralen folgten nach und nach diesem Beispiel. Inzwischen wird um die letzten Männerbastionen wie den „King’s College Choir“ diskutiert. Und das alles, ohne dass das Abendland – zumindest musikalisch – in Großbritannien seitdem spürbar untergegangen wäre.

Fazit

Es kann sicherlich nicht darum gehen, Knabenchöre komplett abzuschaffen. Worum es aber bestimmt gehen muss, ist sicherzustellen, dass in Deutschland Mädchen in Sachen Chorgesang den gleichen Zugang zur Förderung erlagen wie Knaben ihn seit Jahrhunderten haben. Dazu noch einmal Susann Bräcklein:

[…] wenn der Freistaat Bayern vier Knabenchöre finanziert, dann müsste er vier Mädchenchöre genauso fördern.

In diesem Sinne halte ich es auch für hilfreich, wenn wir alle, besonders die Knabenchor-Fans unter uns, ab und an uns unseres Bestätigungsfehlers (confirmation bias) bewusst werden und uns hinterfragen, ob das, was wir für so klar unterscheidbar im Klang halten, tatsächlich so klar unterscheidbar ist, wie wir glauben, oder ob wir da nicht einfach etwas fortschreiben, was bei Lichte betrachtet doch mehr negative Konnotationen hat, als wir zunächst wahrhaben wollen.